– Bei Lichte betrachtet –
Seien wir mal ehrlich und betrachten den jährlichen Wettlauf zum Weihnachtsmarkt bei Lichte: was spricht für einen Besuch? Wenig, aber mindestens sieben Gründe sprechen dagegen, dieses Jahr auf den Weihnachtsmarkt zu gehen.
Deutschland
Generell und überhaupt ist es sehr anstrengend, wenn sich größere Gruppen deutscher Menschen auf einer mittelgroßen Fläche versammeln: Public Viewing, Demos und Weihnachtsmärkte. Denn der gemeine Deutsche hat dann gleich das Gefühl, recht zu haben: im Fußball, in der Politik und im Brauchtum, immer müssen die Deutschen gewinnen, sonst ist die gemeine Volksseele gekränkt. Nur da, in solch chorisch abgesichertem Egoismus fühlt der gemeine Deutsche sich zu Hause – weil er zu Hause nicht weiß, was er denken soll. Das ist so eine Gruppendynamik, gegen die ein guter Deutscher nichts tun kann. Deswegen erliegen die meisten dem lieben Angebot der Kollegen, Freundinnen oder alter Bekannten und sagen ja, wenn es heißt, man müsste doch mal auf den Weihnachtsmarkt gehen. Man selbst hat das Gefühl, alle schlechten Eigenschaften – vertreten von neurechten Opas, halbaufgeklärten, aber meinungsstarken Ökostudenten, betriebsklimarettenden Chefs und eben ganz normalen, sympathischen Familien – des durchschnittlichen Deutschen kämen um einen herum zusammen. Was da zwischen Schubsen, Engstehen und Dauerzittern von allen Seiten auf einen einprasselt, ist schlimmer als jedes RealityTV. Das kann man aber auch zu Hause auf dem großen Flachbildfernseher empfangen und da ist man sogar geschützt vor dem direkten Kontakt mit dem Mitmensch und der Gefahr, dem Drang der Masse zu erliegen und Meinungen mit nach Hause zu bringen, von denen man zu Hause niemals gedacht hätte, dass man sie haben könnte.
Selbstgebasteltes
Alleine schon die Idee, dass man in den vier Wochen vor Weihnachten auf einmal auf den Gedanken kommt, Selbstgebasteltes wirklich schön zu finden, ist völlig absurd. Gerade, wenn man bedenkt, dass dieses Gefühl nur exakt so lange dauert, wie man von zu Hause bis auf den Weihnachtsmarkt braucht. Dort wird einem dieses Wunschdenken schneller widerlegt als eine Nonne das Ave Maria aufsagt. Dann geht man nämlich bloß noch gelangweilt durch die Reihen, um am Ende doch nichts zu kaufen, weil dafür, dass es handgemacht ist, es wirklich teuer ist. Was das ganze Jahr über als überteuertes, ökologisch wertvolles Kinderspielzeug in kleinen Läden angeboten, man aber wegen der eigenen Abneigung gegenüber den pastoralen Klimafaschisten der Grünen nicht kauft, soll im Dezember für die rechte Weihnachtsstimmung sorgen? Aber abgerechnet wird unterm Baum: Ho, ho, Holzspielzeug ist eben nicht Prinzessin Lillifee und die Tochter, Nichte, Enkelin gnadenlos im Nichtverzeihen von liebgemeinten, aber falsch gekauften Geschenken. Vom ersten Schritt auf die bejingelte Verkaufsfläche fängt man an, sich zu belügen: Guck mal, ist das nicht schön? ‑ Hab ich jetzt Lust auf ’ne Bratwurst? ‑ Der Glühwein ist aber echt gut! ‑ Dieses Jahr ist besser als letztes! Alles falsch, klar, aber zugeben mag’s keiner. Außerdem hat man seine Kinder ohnehin schon zum Marken- und Elektronikkonsum erzogen, sodass man sogar die wenigen schönen Sachen nicht kauft. Und Spaß kann man, umgeben von Kälte und Bratfettgestank ehrlicherweise eh nicht haben. Besser wäre es also, man bliebe gleich zu Hause und täte nicht so debil begeistert, spare sich die Fahrt in die Stadt und bestelle gleich alles am heimischen Internetzugang seiner Wahl. Dann hat man sogar was für die Umwelt getan, kann man dann sagen, weil man mal das Auto hat stehen lassen.
Geschenke
Die Reihen an sympathischen, mit spärlichen Tannenzweigen geschmückten und von mittelalten Damen – die mit beiden behandschuhten Händen eine Tasse Tee halten und mit bösem Blick gelangweilt darüber hinweg pusten – besetzten Sperrholzbuden bieten natürlich allerlei tolle Geschenkideen fürs Fest. Nur wem könnte man das schicke gelbe Bienenwachskerzenset schenken, das Jesulein für die Krippe oder, mal simpel, effektiv und augenzwinkernd, die wirklich witzige Elchmütze? Genau, aber die Oma hat alles schon oder braucht’s nicht. Also wird’s doch die Panflöten-CD der Pustebrüder, die auf klebrigem Elektroklangteppich mit den Hits der 70er, 80er und von vorgestern gegen Lärm und die dröhnende Konservenmusik anflöten. Freundlich lächelnd tut man einen Zehner in ihren Hut und nimmt die Musik für das alternative Geschwisterlein mit, das gerade von der Punk- in die Raggae-Phase, und von Germanistik auf Ethnologie gewechselt ist und Glaube zwar nicht schlimm findet, von der Kirche als Institution aber gar nichts hält. In Wahrheit weiß man aber, dass man in keiner einzigen der vielen Kleinkunsthandwerkerhäuschen etwas findet, was man selbst gerne geschenkt bekommen würde. Man kauft den Klumpatsch nur aus Rache, um andere für die eigene Schwäche zu bestrafen, dieses Jahr wieder auf den Weihnachtsmarkt gegangen zu sein. Oder noch schlimmer: man kauft’s, weil man wiedermal keine bessere Idee hatte und setzt auf den Selbstbastelbonus, mit dem man schon als Kind punkten konnte. Ein wahres Geschenk aber wäre es, nichts zu kaufen. Und zum Nichtkaufen muss man noch nicht mal hingehen.
Musik
Die Musik auf Weihnachtsmärkten ist generell schlecht. Und schlecht bedeutet in diesem Fall, noch schlimmer als auf Bayern 1 zur Mittagszeit. Dafür können die Weihnachtsmärkte freilich wenig, denn da wird in etwa alles gespielt, was im Radio kommt und auf jeder Weihnachts-Best-of vorhanden ist und die Leute deswegen einfach hören wollen, weil sonst kein Christmasfeeling hochkommt. Muss man denn jedes Jahr „Last Christmas“ spielen, fragen sich manche, die meinen, damit schon Kulturkritik zu betreiben, aber nicht zugeben wollen, dass ihnen ohne den schwulen George Michael, der ihnen was von verlorener Liebe zum Fest singt, etwas fehlen würde. Alle singen mit, obwohl niemand die Lieder gut findet. Auch nicht den Kinderchor oder den lokalen Musikverein, die einem im Ohr liegen, während man sich echt deutsche – so viel Tradition muss neben „Jingle Bell Rock“ erlaubt sein – Langosch kauft. Swinging Christmas, Classic Greats, das Schlagerfest: Ave Maria, Gott steh mir bei, all I want für Christmas is Ruhe, und zwar zu Hause.
Menschen
Nerviger als große Menschengruppen sind kleine Grüppchen, in denen man unterwegs ist und in denen sich immer jemand findet, der findet, dass große Menschengruppen echt nervig und anstrengend sind – und nicht merkt, dass er damit wesentlich nerviger und anstrengender ist, als die große Menschengruppe. Zugesagt hat der kleine Feigling nämlich auch nur, weil er niemanden vor den Kopf stoßen wollte, und dann aber nur genervt in der Gegend rumsteht, weil er sich nicht getraut hat, zu sich und den anderen ehrlich zu sein und abzusagen. Die sind fast so anstrengend wie die Gruppen sich zu Grundschulmädchen zurückgiggelnden feschen Kegelclubdamen mit blinkenden Nikolausmützen auf dem Kopf und vom Glühwein mit Schuss rot leuchtenden Nasen und Weihnachtsliedern auf den Lippen. Da fallen diejenigen gar nicht mehr ins Gewicht, die mit Zwiebelsteak in der Hand ins gesellschaftspolitische Philosophieren geraten und meinen, dass der Weihnachtsmarkt schon immer Weihnachtsmarkt hieß und dass, wenn das jetzt Wintermarkt heißen würde, was es in Franken nur in Altmannstein tut, dann ja schon a weng die Tradition verloren ginge. „Joah, Heinz, für mi a noch a Glühwein.“ Also, hoch die Tassen, hoch die Tradition. So verteidigt man abends am Glühweinstand das Abendland. Wer darauf Lust hat, also das tatsächlich als Bereicherung seines Lebens sieht, kann gerne auf den Weihnachtsmarkt gehen, denn, so viel ist sicher, in jeder Gruppe findet sich mindestens einer dieser Typen. Wer davon wenig hält, bleibe zu Hause.
Glühwein
Draußen hat’s um die 0°C, man selbst hat einen Arbeitstag in den Beinen und der gleiche Glühwein, den man für einsneunundzwanzig den Liter im Aldi kaufen kann, kostet mindestens drei Euro, zuzüglich Pfand. Wer da nicht gleich die Winterstiefel auf den Kopf und die Mütze über die Füße zieht, sich bibbernd ganz hinten an die Schlange vor einen der zahlreichen Stände stellt und sich auf den Glühwein freut, der nach einer halben Tasse schon kalt und ungenießbar ist, der hat Weihnachtsmärkte noch nicht verstanden. Denn man bekommt doch eine Stempelkarte als treuer Kunde, die man, ganz der harte Trinker, der man damit zu sein glaubt, in vier Wochen natürlich vollsäuft und sich voll dem weihnachtsmarktkapitalistischen Zwangssystem ergibt. Währenddessen regt man sich darüber auf, dass schon im November Nikoläuse im Supermarkt stehen. Der soziale Akt besteht dann bloß noch darin, den anderen einen Glühwein mitzubringen – die Stempel nimmt man auf seine Karte. Es wäre doch absoluter Quatsch, die paar wirklichen Freunde, die man hat, einzuladen und mit denen so einen Glühwein selbst zu machen und dabei die schönsten Folgen „Friends“ zu gucken – wohlgenährt und wohlgewärmt in guter Gesellschaft ohne Schlangestehen. Und aufs Klo kann man auch, wann man will.
Besinnlichkeit
Weil der Weihnachtsmarkt in die Adventszeit fällt, hat er doch wohl, denke ich, etwas mit der Vorbereitung auf Weihnachten zu tun. Dass man raus und unter Leute gehen muss, um sich in sich zu besinnen, ist mir nicht ganz klar. Das mag, das kann ich nicht ausschließen, an mir liegen. Denn vielleicht, auch das halte ich für möglich, habe ich einfach keine Lust auf Weihnachtsmärkte und suche krampfhaft nach Gründen, das vor mir selbst zu begründen. Denn was ist denn falsch daran, sich mit ein paar Leuten zu treffen, was zu trinken, ein wenig spazieren zu gehen und sich dabei nett zu unterhalten? Genau, nichts. Es ist eben so eine deutsche Art, sich auf die jährliche Feier der Geburt Jesu Christi vorzubereiten. Der Weihnachtsmarkt hat in Wahrheit gar nichts mit Weihnachten zu tun. Weil er aber seit Ewigkeiten schon immer im Advent abgehalten wird, braucht man ihn für seine Stimmung ebenso wie Kerzen und den pflichtschuldigen Gang in die Kirche. Das läuft dann in etwa so ab, dass man zuerst auf den Weihnachtsmarkt geht, um sich zu versichern, dass die Weihnachtszeit wirklich gerade begonnen hat. Nach ein paar Besuchen rennt man dann panisch in die Geschäfte und kauft die Geschenke. Dann setzt man sich in die Kirche und wird kurz daran erinnert, dass da ja mal was war. Zu Hause sitzt man dann bei gutem Essen bei der Familie oder anderen einem liebe Menschen, unterhält sich, freut sich über den schönsten Baum, den man je hatte und die Geschenke und überhaupt, dass man es wieder einmal geschafft hat, zusammen zu kommen. All der Zwirbel davor dient nur dem einen Zweck, am Heiligen Abend wirklich glücklich und zufrieden in Weihnachtsstimmung sein zu können. Gesegnet sind jene Menschen, die solch ein Gefühl ganz ohne Weihnachtsmarkt in sich herstellen können und deswegen gar nicht erst hingehen müssen. Ich gehöre nicht dazu. Leider. Aber ich gehe trotzdem nicht auf den Weihnachtsmarkt.