– oder: Warum Bamberg am Meer liegt –
Auf der anderen Seite die klassische Musik. Das eine Kind des Königs. Ich kenne Menschen, junge Menschen, die reden, wenn sie vom Theater, vom Autorenfilm oder von einem Abend bei den Bamberger Symphonikern sprechen, immer mit einem leicht ironischen Unterton, der das Gesagte etwas abschwächt, es in den Bereich des Möglichen verschiebt und die gemeinte Meinung dahinter verbirgt. Mit diesem Ton, der den Staub aus den Lungen von alten Männern, die Griechisch noch in der Schule gelernt haben und distinguiert über Wein sprechen können, aufnimmt und parodierend weitergibt, sprechen die jungen Männer also von diesem Orgelkonzert oder jener Sinfonie, die sie gehört haben, als seien sie Teil von etwas Fremdem gewesen, das sich im besten Fall „Klassische Musik“, im schlimmsten „Hochkultur“ nennt – was auch immer hoch und niedrig in dem Zusammenhang bedeutet. Als ob man, will man klassische Musik gut finden, gleich in so einen Günter-Gaus-im-Gespräch-Ton verfallen müsste, den man sich vorstellt, wenn man einen Ohrensessel vor offenem Kamin stehen sieht. Als ob man sich anstrengen müsste, will man klassische Musik genießen, weil es die Musik der gehobenen Kreise ist – was auch immer diese Kreise sein sollen. Und weil man denkt, dieses Brimborium, die andere ausschließende Angeberei, wenn man über exklusive Erfahrungen spricht, gehöre dazu, spricht man eben auch so oder geht gar nicht erst hin, weil man sich nicht zugehörig fühlt. Denn wer hingeht, nur um hinterher drüber zu reden, hat nichts verstanden und wer nicht hingeht, wird es nie verstehen.
Und hier, auf dieser Seite des Ufers, das andere Königskind, der unbedarfte Hörer jener Musik, die solch großen Vorstellungsräume eröffnet, dass manche darin vergessen, dass es auch einfach nur Musik ist. Und dazwischen, zwischen der klassischen Musik und dem unbedarften Hörer, ein tiefes Wasser voller falscher Vorstellungen, röchelndem Respekt und Schlieren von Ignoranz. Was gibt es nicht alles, was viele nicht kennen und deswegen vielleicht denken, nichts zu verstehen: Generalbass, Durchführung, Zwölftontechnik? Bach, Beethoven, Buxtehude? Riehm, Ravel, Rieu? Ok, den letzten kennen die meisten, aber mögen tun ihn die wenigsten. Alles nicht so wichtig. Worauf es ankommt ist Rhythmus, Energie und Lautstärke. Was juckt denn, wie man nennt, was da gerade passiert – wenn Beethoven Vollgas gibt oder Chopin zärtlich wird? Denn man kann sich das einfach geben, Klassikradio an, irgendne CD gekauft oder am Dienstag, 29. Januar zum Studentenkonzert der Bamberger Symphoniker gegangen. Fertig ist die klassische Laube. Der Rest, nämlich die Musik, wird einem ja vorgespielt, man muss also nur mit offenen Ohren zuhören.
Hinter den Hürden: Zustimmung zu dem gerade Gehörten
Mit dem Studentenkonzert geht es den Symphonikern nämlich ganz simpel darum, Hürden abzubauen, erklärt mir Ronja Günther, Referentin für Education, nach der Probe, die ich besuchen durfte. Jeder kommt wie er mag. Eine Kleiderordnung gibt es nicht und das Orchester juckt es nicht, wenn zwischen den Sätzen geklatscht wird, weil spontane Begeisterung sich in der nächstbesten Stille bahnbricht. Ist doch super, Begeisterung, Zustimmung zu dem gerade Gehörten. Im Gegenteil, auch die Musiker sind sensibel für verschiedenes Publikum. Denn Musik ist nur eines der direktesten Mittel der Kommunikation. Der Distinguierte würde an dieser Stelle Wittgenstein zitieren, dass man, worüber man nicht sprechen kann, schweigen müsse und dass an die Stelle dieses Schweigens die Musik träte – dieser Satz strotzt vor der bereits erwähnten Ironie. Was ich sagen will ist: Ich bin oft von klassischer Musik ergriffen und weiß selten, warum.
Das aber immer wieder Faszinierende ist, wie alle mit allen kommunizieren. Die Musiker wechselseitig mit dem Dirigenten, die Musiker untereinander, die vom Komponisten erdachten Motive miteinander, die, von den Musikern, angeleitet vom Dirigenten, für die Zuhörer zu Gehör gebracht werden. Klingt kompliziert, aber das Wunder der Kommunikation entsteht in der Harmonie all dieser Stimmen, und Harmonie ist nie kompliziert, sondern einfach schön. Deutlich wird das, hat man das Glück, wie ich, bei einer der insgesamt fünf Proben im Konzertsaal für solch ein Konzert dabeisein zu dürfen, auch wenn man natürlich keine Fotos machen darf – aber wer braucht schon Fotos von Musik? Gewöhnlich sind drei normale Proben von zweieinhalb Stunden vorgesehen, dann die dreistündige Hauptprobe, bei der auch der Solist – in diesem Fall Klarinettist Martin Fröst – dabei ist, und natürlich die Generalprobe. Das reicht für ein Orchester auf oberstem Topniveau wie die Bamberger Symphoniker.
Auffällig ist die Höflichkeit, mit der sich alle begegnen. Man gibt sich die Hand, spricht, lacht und spielt sich ein oder stimmt sein Instrument. Dann, pünktlich um 9.30 Uhr kommt der Dirigent. Jakub Hrůša ist seit 2016 Chefdirigent in Bamberg. Sein Vertrag wurde im letzten Jahr bis ins Jahr 2026 verlängert. Man sollte sich den Namen also merken. Damit leitet ein Tscheche das Orchester an, das 1946 von ehemaligen Mitgliedern des Deutschen Philharmonischen Orchesters Prag gegründet wurde. Er begrüßt, wie beim Konzert, die beiden Geiger links von seinem Pult. Der Dirigentenstuhl lässt sich nicht so verstellen, wie er das mag. Also stellt er ihn kurzerhand weg und dirigiert die Probe im Stehen. Wobei, genauer gesagt: in ständiger Bewegung. Alle sind vom ersten Moment an fokussiert. Auf dem Plan steht heute Mozarts 41., seine letzte, auch die „Jupiter-Sinfonie“ genannt. Sie trägt also den Namen des römischen Göttervaters [Im Programmheft taucht er als griechischer Göttervater auf]. Nicht zu unrecht. Zuerst wird noch einmal der 4. Satz bearbeitet, dann der Anfang. Wenn die Musiker zur ersten Probe kommen, beherrschen sie ihren Part schon. Je nachdem, wie schwierig ein Stück ist und wie notwendig es dem Dirigenten erscheint, gibt es noch weitere oder sogenannte Registerproben. Da sind dann nur bestimmte Instrumentengruppen – Holz, Blech, die einzelnen Streichinstrumente – dabei. Alles sehr viel zu erklären.
Also, alles ist Kommunikation. Das Interessante, wie sie die Modi wechselt. Wenn nicht gespielt wird, spricht Hrůša leise, in ruhigem Ton. Er bedankt sich für das gerade gespielte und bittet, an dieser oder jener Stelle um kleine Veränderungen. Was er sagt, versteht man vermutlich nur, wenn man ausgebildeter Musiker ist, wenn man nicht nur sein Instrument und die Noten vor einem, sondern die Musik versteht. „Geben sie uns etwas mehr Richtung, helfen sie uns weiterlaufen.“ „Da sind wir nicht eine Einheit.“ „Das ist alles in Forte, aber ein bisschen mehr differenzieren.“ Wie, als ob es um Gespräche ginge, hört man, dass das Fagott auf die Flöte antworten würde, dass am Anfang mehr Artikulation nötig sei oder dass mehr im Forte phrasiert werden müsse, weil sonst der Kontakt zu den Bläsern verloren ginge.
Getragene Tiefe: der böhmische Klang der Bamberger Symphoniker
Wenn das stimmt, wenn sich die Instrumente untereinander so gut verstehen, wie es bei den Bamberger Symphonikern der Fall ist, dann hört man das auch als Zuhörer. Dafür muss man nicht unbedingt das Fagott raushören, oder die tiefen Bassläufe harmonisch zuordnen können. Alles, was man dafür tun muss, ist hingehen. 10 Euro kostet das ermäßigte Ticket für Studenten. Dafür bekommt man Mozart, Strawinsky und Copland (Jupiter-Sinfonie, symphonisches Marionettentheater Petruschka und Konzert für Klarinette und Orchester; Wiener Klassik, Neue Musik und Amerikanische Moderne). Das Hingehen ist wichtig, weil sich die Musik dieses Orchesters erst live in allen Differenzierungen zeigt, dort wo sie seit 1993 zu Hause sind, im Joseph-Keilberth-Saal, der den besonderen, den „böhmischen“ Klang der Symphoniker erst zum Tragen bringt. Die Tiefe der Bässe, auf der die Melodien sich entfalten, wird noch ausgebaut, ohne dass die Differenzierung der Höhen verloren ginge und sodass man als Hörer das Gefühl bekommt, Böhmen läge am Meer – als sei also das Unmögliche möglich.
Das zu erleben, direkt da, ist etwas anderes als sich eine der zahlreichen dort aufgenommenen CDs anzuhören: Brahms, Bruckner und immer wieder Mahler. Wie simpel nett und freundlich ist es also von den Symphonikern, Studenten einzuladen, dabei zu sein. Das Orchester spielt zur Eröffnung des Prager Frühlings, reist in der ganzen Welt herum, Lateinamerika, Asien, Amerika, egal, jeder will die Bamberger Symphoniker haben. Drei bis vier Jahre vorher werden solche Konzerte angefragt. Und wenn es soweit ist, gehen die Musiker samt eigenem LKW auf Reisen. Für alles haben sie alles da. Frackkisten für Fräcke, die jeder aber doch selbst waschen muss, Boxen für die Geigen, für die Hörner. Alle müssen sie dabei sein, vor allem Orchester- und Notenwart. Denn ohne die, auch wenn man sie nicht sieht, ginge nichts. Sie legen die Noten vor jeder Probe bereit, fertigen Kopien, wo jemand zu Hause üben will („geprobt“ wird nur gemeinsam) und notieren die Streichrichtungen der Streicher, damit nicht nur eine musikalische Harmonie hergestellt wird, sondern man die auch im gleichmäßigen Wiegen nachvollziehen kann. Alleine deswegen muss man mal da in dem Saal gesessen und diesem musikalischem Schauspiel zugesehen haben. Weil alles zusammenpasst und man selbst Teil davon wird.
Das ist, wie gesagt, was die Bamberger Symphoniker erreichen wollen. Zwar veranstalten sie auch solch einen Zinnober wie Slam Symphony („Kultstatus“ sagte man mir, habe das mittlerweile) und Club Symphony („Raus aus dem Haus und rein in die Sandstraße“), damit man zeige, wie cool klassische Musik sein kann. Die Studentenkonzerte der letzten Jahre jedenfalls waren nicht immer restlos ausverkauft. Dabei ist die beste Werbung für klassische Musik doch die Musik selbst: keine Relaxing Häppchen von der kleinen Nachtmusik für Elise, sondern die volle Dröhnung: wohltemperiert, durchvariiert, sinfonisch, nocturnal und epochal. Ohne Wenn und Aber, egal wer wie hinterher drüber redet. Mit und ohne Beats und Witz.
Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb, die konnten beisammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief. Nun, die Bamberger Symphoniker sind dieses böhmische Meer dazwischen, dass man nicht immer durchschreiten kann, aber einen Blick zu wagen, den sachten und starken Wellen zu lauschen, zu sehen, wie sie sich aufbauen und brechen, davon ergriffen zu sein, bevor man sich in sie hineinstürzt – vielleicht –, das können sie einem bieten. Schwimmen lernt man von alleine im Bamberger Meer.